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Jan Hus - Der Feuervogel von Konstanz

 

Jan lief der Schweiß die Schläfen runter...


Jan stapfte voran, den Blick fest geradeaus gerichtet...


Aneschka und Zedna schritten Arm in Arm in Richtung des Domes...

Jan lief der Schweiß die Schläfen runter. Er atmete laut und schwer.
Er wurde gestoßen, und tappte unbeholfen nach vorne. Seine Füße sah
er nicht, er erahnte nur durch die schmalen Augenöffnungen seiner hölzernen Maske, in welche Richtung er bugsiert wurde.
Er drehte sich schwankend um. Um ihn wogten die hässlichen Tierfratzen seiner maskierten Leidensgenossen.
Sie wurden in eine weitläufige Halle getrieben.
Männer jeden Alters waren hier versammelt. Ihre lauten, erregten Ausrufe sprangen den Maskierten entgegen, als sie in den Raum stolperten.
„Was ist denn das für eine Herde?“
„Merkt ihr was? Hier stinkt‘s auf einmal!“
„Ja, tatsächlich, ganz widerwärtig! Das müssen die Ziegenböcke hier sein!“
„Schert euch nur fort, ihr verpestet die ganze Luft!“
Jan bekam einen derben Stoß auf die Schulter, und er stolperte weiter, bis in die Mitte des Raumes.
„He, Brüder, was machen wir mit diesen schmutzigen, beschissenen Zottelböcken?
„Wir werden ihnen schon den üblen Geruch austreiben!“
„Wir werden ihnen die Hörner absägen!“, schrie jemand mit sich überschlagender Stimme.
„Und die Zähne einschlagen!“
Unter den wilden Anfeuerungen der Anwesenden erschien von irgendwoher ein riesiger Hammer. Bald gesellten sich eine Zange und ein Hobel dazu.
Jan schluckte. Falls dies ein Albtraum war, wurde es höchste Zeit, aufzuwachen.
Doch er wachte nicht auf. „Erst die Haare!“
Jan wurde von vielen Händen ergriffen und festgehalten. Jemand zückte eine Schafschere beängstigenden Ausmaßes. Jan fuhr zusammen, als sie an seinen Nacken stieß.
Haarzotteln fielen zu Boden.
Zeit zum Aufatmen war nicht. Ein Mann sprang mit einem grotesk langen Schwert auf ihn zu. Jan wollte zurückweichen – fest zupackende Hände hinderten ihn daran. Die Klinge zischte über seinem Kopf, die Maske stieß hart an seine Stirn – ihre zwei langen Hörner fielen zu Boden. Gleich darauf folgten die herabhängenden Ohren seiner Kopfbedeckung.
Die Versammelten johlten vergnügt, andere fuhren fort, wüste Beschimpfungen auszustoßen.
„So, jetzt bist Du weder Bock noch Esel mehr!“
„Du kannst uns dankbar dafür sein!“
„Aber seht nur, was für ein Dummkopf dieser Beanus noch immer ist! Das reinste Trauerspiel ist das!“
Sie stampften, klatschten, stießen schrille Tierlaute aus.
„Ein stinkender Bauer!“
„Ein grober Klotz!“
Die Runde lachte. „Da hilft nur eins! Hobeln!“
Jan wurde abermals gepackt und auf eine Bank geworfen. Der Schatten eines riesigen Hobels fiel auf ihn. Bald brannte sein Rücken wie Feuer. Die Männer sangen, nein grölten im Chor ein schlüpfriges Lied in reinstem Latein. Jans unschuldige Ohren glühten unter seiner Vermummung.
„Und, hat das Hobeln was gebracht?“
Plötzlich riss man ihn wieder hoch.
„Lasst uns nachschauen!“
Bevor er wusste, wie ihm geschah, wurde ihm die Maske vom Kopf gerissen. Er schnappte nach Luft, riss die Augen auf, einen Augenblick verwirrt – und starrte geradewegs in die hellblauen Augen eines kurz gewachsenen Jungen, der vor ihm stand.
„Bäh, er stinkt noch immer!“ schrie begeistert ein hagerer Mann, ein Magister, erkennbar an dem Mantel mit den langen Flügelärmeln. „Jakobellus, tu endlich was dagegen!“
„Mit dem größten Vergnügen!“, grinste der Angesprochene. „Komm her, dass ich Dich einseife, Beanus!“ Flink griff er in den Eimer, den er bei sich führte.
Jans Magen drehte sich um, als er die faulige rotgraue Masse in seiner Hand erblickte. Was um alles in der Welt war das? Gedärm? Lungenstücke? Noch ehe er wusste, wie ihm geschah, klatschte das schleimige und unsäglich riechende Etwas auf sein Gesicht.
Jan wand sich, würgte. Der Kreis um ihn herum lachte schallend.
„Hört ihn kotzen! Er kann sich selber nicht mehr riechen!“
„Kein Wunder, der stinkt ja wie der Schlachthof!“
„Wir müssen ihm helfen!“
„Wasser! Tragt Wasser herein!“
„Und ein ordentliches Stück Seife!“
Jan wurde mehrere Male kopfüber bis zu den Schultern in einen hereingeschleppten Zuber getunkt. Er hustete, röchelte. Irgendjemand bearbeitete sein Gesicht und seine Haare mit einem scharf nach Gewürznelken riechenden Waschstück. Beißender Schaum drang ihm in Mund und Nase.
Endlich wurde er losgelassen. Er taumelte triefend und hustend vom Zuber weg. Jemand warf ihm ein Tuch über den Kopf.
„Christian!“, rief Jan, als er Peters älteren Bruder erkannte.
Dieser lachte laut. „Sieh da, bist Du nicht Peters Schulfreund? Du bist aber mächtig gewachsen, seit ich Dich zuletzt bei uns zu hause in Prachatitz sah!“
Bevor Jan antworten konnte, ergriff Christian das Tuch und rieb Jan ab, bis seine Ohren glühten.
Endlich war er frei.
Staunend und halb benommen blinzelte Jan in die Runde.
„Ha, schaut her!“, rief strahlend der Student mit den hellblauen Augen. „Wieder mal haben wir einen ungehobelten, stinkenden Beanus in einen feinsinnigen Studenten der Artistenfakultät verwandelt!“ Er klopfte Jan kräftig auf den Oberarm. „Zeit, sich vorzustellen: Mein Name ist Jakobellus von Mies.“
„Johannes aus Husinetz.“
„Willkommen im Karlskolleg!“
„Na, dann können wir ihn ja endlich dem Dekan vorstellen!“, riefen die Umstehenden zufrieden.
Jakobellus von Mies grinste. „Bist Du bereit?“
Jan fuhr sich durch die Haare und atmete tief durch. „Unter einer Bedingung: Dein Eimer bleibt hier!“
Nur Jakobellus und Christian wiesen Jan den Weg durch die Gänge des Karlskollegs. Die anderen Studenten und Lehrer blieben da, um sich auf die kostenfreien Speisen zu stürzen, die traditionell zum Fest der Beanie gereicht wurden, oder um die noch verbliebenen Maskierten zu quälen.
„Ich beglückwünsche Dich! Du hast das Einführungsritual mit Bravour überstanden!“ sagte der Dekan, als Jan vor seinem Stehpult erschien. „Wenn Du möchtest, kannst Du jetzt die Aufnahmegebühr zahlen und Dich hier in die Liste eintragen.“
Jan hielt einen Augenblick inne.
Seine Gesichtshaut brannte, seine Haare waren verfilzt und standen in alle Richtungen ab, er sonderte noch immer den Gestank der abscheulichen Tierreste aus und kleine Wasserrinnsale liefen von seinem durchnässten Wams seinen Rücken herunter.
Er hatte sich diesen denkwürdigen Augenblick unzählige Male zuvor ausgemalt. Und in seiner Einbildung war sein Auftreten stets würdiger gewesen. Dennoch war es der großartigste und erhabenste Moment seines bisherigen Lebens.
Er zählte sechs Groschen ab und überreichte sie dem Dekan. Dann tunkte er die Feder in das mit Tinte gefüllte Rinderhorn.
Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen trug er sich auf die Matrikelrolle der Prager Universität ein.

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Jan stapfte voran, den Blick fest geradeaus gerichtet.
Die Bücher in seinen Armen wogen schwer. Ihre Last presste ihn zu Boden, wollte ihn festhalten, erschwerte jeden Schritt.
Er hielt hunderte von Pergamentseiten an sein Herz gedrückt. Etliche davon hatte er selber in wochenlanger Arbeit beschriftet, im diffusen Licht einer Talgkerze oder einer kleinen Fensteröffnung.
Er keuchte. Nicht nur, weil die Last auf seiner Brust lastete und die Straße ständig bergauf führte. Sondern weil dieser Gang ihm so schwer fiel, dass er ihm fast körperliche Schmerzen bereitete.
Jakobellus warf ihm einen Blick zu. Auch seine Arme waren beladen mit zu Büchern gebundenem Pergament. Weitere Männer bildeten ihre Eskorte. Studenten, Magister, Priester. Alle zeigten erboste oder betroffene Mienen.
Es waren hunderte von Büchern, die sie zum Erzbischofspalast schleppten. Die Werke waren nicht nur von großem weltlichen Wert. Sie waren ihre Herzen. Ihr Geist.
„Du solltest ein paar Bände abgeben!“, mahnte Jakobellus zum wiederholten Mal. „Ruf doch einen der kräftigen Studenten, die…“
„Nein!“, fuhr Jan ihm über den Mund. „Ich muss das selber machen.“
Er glaubte, ersticken zu müssen. Bei jedem Schritt schnürte sich sein Hals etwas mehr zu.
Herr, sieh mich an. Was für ein elender Wurm ich doch bin! Es fehlt nur wenig, und ich falle auf die Knie und heule auf wie ein Weib, statt mich für dich wie ein flammendes Schwert zu erheben. Du wirst gar enttäuscht von mir sein.
Doch ich schwöre, es sind nur Augenblicke der Schwäche. Ab morgen werde ich wieder auf der Kanzel stehen und für dich reden. Und all diejenigen Lüge strafen, die behaupten, die Bulle des Papstes hätte mich mundtot gemacht. Die Gans wird wieder schnattern, wie eh und je. Derb und bäuerisch. Kämpferisch und zäh.
Ab morgen…
Ein gequältes Geräusch entfuhr seiner Brust. Jakobellus war so feinfühlig, nicht aufzusehen.
Jan schluckte heftig.
Vor Jans Geist leuchteten unverlangt die verhassten Worte des päpstlichen Schreibens auf, das ihn heute hierhin trieb.
Predigen ist nunmehr nur noch an Stifts-, Pfarr- oder Klosterkirchen oder deren Friedhöfen gestattet. Alle anderen Volkspredigten sind untersagt, selbst wenn ihnen eine frühere päpstliche Erlaubnis vorliegt, ganz gleich, welchem Stand der Prediger angehört.
Alle Männer, die Artikel Wycliffs lehren oder verteidigen, sind als Ketzer zu betrachten. Wenn sie trotz Ermahnung seinen Artikeln nicht abschwören und ihre Traktate nicht dem Erzbischof ausliefern, sind sie gefangen zu nehmen und sie ihrer kirchlicher Pfründe zu entkleiden.
Zbynjeks Klage gegen Jan war bestätigt worden. Seine eigenen Argumente beiseite gewischt.
Die im März in Prag verkündete Bulle von Papst Alexander V. war nichts weiter als ein Freibrief an den Erzbischof, Wycliffs Anhänger mit aller Willkür zu verfolgen. Als genau das hatte Zbynjek sie auch aufgefasst. Und es hatte keine vier Monate gebraucht, bis er zu der Bücherverbrennung aufrief, sicher, dass Wenzel nicht eingreifen würde, da der König sich irgendwo in einer seiner fernen Burgen herumtrieb.
Jan fletschte die Zähne, kratzte seine Wut zusammen.
Sie wollten ihn mundtot machen, in Rom. Aber das würde er nicht zulassen. Seine Bücher konnten sie ihm rauben. Seine Zunge nicht.
Jan passierte das Tor, vor dem Zbynjeks Garden sich aufreihten. Ein Zeichen, dass sich der Erzbischof längst nicht so selbstsicher war, wie er es vorgab.
Recht hat er!, dachte Jan grimmig. Denn ab heute wird Krieg zwischen uns herrschen.
Alle Auseinandersetzungen der Vergangenheit waren nichtig, im Vergleich zu der Tragweite dessen, was hier heute Abend geschah. Und er würde keinem auf der ganzen Welt gestatten, ihm unbestraft seine Bücher zu stehlen.
Keinem!
Im Hof des erzbischöflichen Palais war ein Scheiterhaufen errichtet worden. Mächtige Stämme, kunstvoll geschichtet. Um ihn herum weitere Garden. Und die Geistlichen der Zitadelle. Das ganze Domkapitel, die Prälaten, der Klerus. Die Männer gaben sich keine Mühe, ihre Schadenfreude zu verheimlichen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, den sie Anführer der Ketzer schimpften.
Es sind Männer des Geistes wie ich auch. Wir könnten Brüder sein. Doch wir werden uns nun für immer als unversöhnliche Feinde gegenüber stehen.
Jan merkte, dass er seine Schritte unwillkürlich verlangsamt hatte. Er gab sich einen Ruck, zwang sich, hart an die Stämme zu treten.
Andere hatten schon vor ihm die Zwischenräume der Holzteile mit ihren Büchern bestückt. Jan legte eines dazu. John Wycliff – de civili dominio. Seine erste Abschrift von dem Buch, das Hieronymus ihm einst zuwarf, in Zeiten, als er noch an sich und seinen Zielen zweifelte. Das Werk, das ihn erschüttert und ihm seinen Weg gewiesen hatte. Jans Finger strichen über das vom vielen Gebrauch weiche Leder und die abgewetzten Kanten der Pergamentseiten.
„Kann ich Dir helfen?“, fragte feixend einer der Geistlichen, die um den Holzhaufen lungerten. Er machte Anstalten, nach den verbliebenen Büchern auf Jans Arm zu greifen.
„Untersteh Dich, mich anzurühren!“, donnerte Jan, und der Priester wich hastig drei Schritte zurück. Sofort drehten die Garden aufmerksam die Köpfe in seine Richtung.
„Mach voran!“, fuhr ihn einer der Domherren an. „Alle anderen sind schon fertig. Du hältst uns hier auf!“
Jan strafte ihn mit Missachtung.
Er bettete jedes seiner Bücher sorgfältig an eine andere Stelle. Verabschiedete sich von ihnen mit Trauer und Dankbarkeit. Erst dann nahm er vom Scheiterhaufen Abstand und ging einige Schritte zurück. Seine Augen brannten.
Auf einmal packte ihn jemand mit festem Griff.
„Jan!“
Jan drehte sich ruckartig um – und sah in Paletschs Gesicht.
„Na, alter Freund, haben sie Dich heute Abend auch hier hoch getrieben?“, fragte dieser mitfühlend.
Jan senkte den Blick. Paletsch legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Du darfst es Dir nicht so zu Herzen gehen lassen. Gott wird wissen, wozu das alles hier gut ist.“
„Gut?“, erwiderte Jan scharf. „Das hier ist nicht Gottes Werk. Es geschieht unter dem Einfluss des Satans!“
Der Mann, der vor vielen Jahren einmal sein Lehrer gewesen war, schüttelte den Kopf.
„Hast Du Dir nie Gedanken darüber gemacht, dass wir vielleicht einen Irrweg eingeschlagen haben?
Jan wischte seine Hand weg.
„Wie kannst Du so etwas nur sagen?“, rief er. „Du und Znaim, ihr wart doch die ersten, die sich für die neuen Ideen begeisterten! Ihr habt uns alle geführt auf diesen Weg!“
Paletsch presste die Lippen aufeinander.
„Wir waren jung und ahnten noch nichts von der Tragweite unseres Tuns.“
Jan ballte die Fäuste. Seine Brust drohte zu zerspringen.
„Ich weiß, dass Du und Znaim Schreckliches habt durchmachen müssen, im letzten Jahr, als sie euch auf eurem Weg nach Rom abgefangen und in Bologna eingesperrt haben. Ihr habt Höllenqualen durchlebt. Doch jetzt seid ihr wieder hier, nicht zuletzt, weil wir uns für euch eingesetzt haben, wie Brüder es füreinander tun. Und jetzt wollt ihr uns in den Rücken fallen? Haben die Märtyrer nicht ungleich Schlimmeres durchlitten und sind ihrer Gesinnung dennoch treu geblieben?“
Auf einmal verschloss sich Paletschs Gesicht. Seine Augen bohrten sich in Jan hinein.
„Oh, Du naiver Tropf!“, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen aus. „Ich verbiete Dir, mich in dieser Sache zu belehren, bevor nicht auch Du dazu verdammt wurdest, drei Wochen im Folterkeller zu verbringen! Und wenn Du dann siehst, dass der König nicht die Macht hat, Dich da rauszuholen, wenn Du nicht schlafen kannst, weil die Ratten an Dir nagen und das Geheul des Mannes, den Du verehrst und Dir ein inniger Freund ist, Dir die Ohren zerreißt, reden wir wieder miteinander!“
Jan schüttelte den Kopf.
„Unrecht bleibt Unrecht, egal, mit welcher Gewalt es verbreitet wird! Und die Wahrheit ist immer wahr! Sie wird nicht plötzlich Lüge, nur weil höher Gestellte in dieser Welt sie verneinen! Wir stehen für das wahre Wort Gottes ein, Paletsch! Wende Dich nicht von uns ab, um Dich auf die Seite der Lügner zu schlagen!“
Sie maßen einander abschätzig.
„Heute verbrennen sie unsere Bücher. Und morgen…?“ Paletsch schüttelte den Kopf. „Du wirst auch noch mal so weit kommen, Jan, glaub es mir!“, sagte Paletsch rau. „Auch Du wirst dem abschwören, woran Du jetzt noch glaubst. Und dann werde ich Dich in Deinem Kerker besuchen und Dich wieder als mein Bruder in die Arme schließen. Ich hoffe nur, dass es dann für Dich nicht schon zu spät sein wird, umzukehren.“
Daraufhin wandte er sich von ihm ab und ging.
„Nie! Nie werde ich das tun!“, schrie Jan hinter ihm her, als Paletsch durch das Tor in Richtung Stadt verschwand.
„Du musst auch gehen“, schnauzte ihn einer der Männer an. „Wir werden jetzt die Tore schließen.“
„Ich denke nicht daran.“
„Wenn Du nicht gehst, müssen wir Dich festnehmen!“
„Seit wann sind Hinrichtungen Geheimsache? Ich bin ein freier Magister der Prager Universität und habe ein Recht darauf, bei der Verbrennung meiner Bücher dabei zu sein! Ihr werdet mich schon mit Gewalt abführen müssen! Oder schämt sich etwa Euer Herr dafür, dass er ehrbaren Bürgern ihr kostbares Eigentum raubt und zerstört?“, rief Jan.
„Nun komm schon, Jan“, intervenierte Jakobellus. „Es macht keinen Sinn, hier den Aufstand zu proben.“
„Was, schlägst auch Du Dich auf die Seite unserer Feinde?“, fuhr Jan ihn an. „Dann geh, lauf Paletsch nach, er kann noch nicht weit gekommen sein…“
Jakobellus sah ihn ernst an.
„Wir können hier nichts mehr erreichen, Jan. Deshalb sollten wir gehen. Unsere Kräfte werden wir brauchen, wenn wir ihnen ab morgen wieder entgegentreten!“
Jan spähte misstrauisch in sein Gesicht, versuchte, sich über die Gesinnung seines Freundes klarzuwerden.
Dessen klaren blauen Augen waren von Trauer überschattet, und zum ersten Mal fielen Jan die feinen Linien auf, die sich um seine Augen und auf seiner Stirn eingegraben hatten. Doch Jan verspürte bei Jakobellus auch dieselbe ruhige Gewissheit wie eh und je.
„Verzeih“, sagte Jan rau
Jakobellus lächelte leicht.
„Schon gut, mein Freund.“
„Hab‘ ich mich irgendwie unklar ausgedrückt? Ihr sollt verschwinden!“, herrschte sie einer der Garden an.
Jan und Jakobellus antworteten nicht. Sie waren die letzten, alle ihre Freunde hatten bereits den Hof verlassen. Ein Domherr mit einer brennenden Pechfackel trat aus dem Hintergrund.
Jan warf dem Haufen einen letzten Blick zu. Dann wandte auch er sich ab, während die anwesenden Priester sich zusammenscharten
Die beiden Freunde verließen den Hof. Sofort darauf zogen die Garden die schweren Eisentore zu und postierten sich davor.
Jan würgte. So musste sich ein Vater fühlen, der seine Kinder ausgesetzt hat.
Er und Jakobellus stapften wortlos in die Dämmerung hinein.
Auf einmal erschallten Stimmen.
„Te Deum laudamus. Te Dominum confitemur…“
Jan hielt inne.
„Sie singen das Te Deum“, sagte Jakobellus grimmig.
Glockengeläut drang zu ihnen hinab. Die Totenglocke. Andere Glocken aus der Stadt antworteten.
Jan nickte.
„Sie glauben, dass sie sich heute Abend von den Verunreinigungen der ketzerischen Schriften frei machen “, sagte er beißend. „Aber da haben sie sich geirrt.“ Er drehte sich voller Elan dem flackernden Schein zu, der im Halbdunkel weit hinter ihnen aufleuchtete, und reckte eine Faust. „Ihr habt euch geirrt!“, schrie er. „Die Wahrheit lebt!“
„Te aeternum patrem omnis terra veneratur…“
„Es ist gegen die Heilige Schrift, dass Kirchenmänner Besitztümer haben!“, brüllte Jan in die Richtung des Chorgesangs als Antwort zurück.
Jakobellus Augen wurden groß.
„Richtig!“, rief auch er, und schrie aus Leibeskräften: „Einem Priester ist es erlaubt, ohne die Ermächtigung des Apostolischen Stuhles das Wort Gottes zu predigen!“
Jan und Jakobellus sahen sich an. Auf einmal lachten sie.
„Tibi omnes Angeli, tibi caeli et unversae potestates…“
Jans Brust schien ihm zerspringen zu wollen, als er aus Leibeskraft eine weitere These Wycliffs in die Richtung des rötlich wabernden Horizonts brüllte.
„Wenn ein Mensch gebührend reuig ist, so ist jede äußere Beichte für ihn überflüssig und unnütz!“
„Die Zehnten sind bloß Almosen und die Pfarrkinder können sie wegen der Sünden ihrer Prälaten nach ihrem Belieben entziehen!“, echote es plötzlich hinter ihm.
Die beiden Freunde drehten sich überrascht um. Eine Gestalt drang aus der Dunkelheit. Zwei folgten ihr, dann mehrere.
„Brüder!“, entfuhr es Jan, als nach und nach alle Freunde, die sie vorhin begleitet hatten, wieder zu ihnen aufschlossen.
Auch sie hoben ihre Fäuste.
„Der Papst mit allen Klerikern, die Besitzungen haben, sind Häretiker, weil sie Besitz haben!“, schrie einer von Jans Studenten.
Die Männer fielen einander in die Arme. Nicht wenige von ihnen hatten feuchte Augen. Jan lachte, laut und gelöst, wie lange nicht mehr, während hinter ihnen das Feuer abflaute.
Sie brauchten keine Bücher.
Sie trugen die Thesen der Wahrheit längst unauslöschlich in ihren Herzen.

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Aneschka und Zedna schritten Arm in Arm in Richtung des Domes. Sie gingen schnell, denn die Glocken, die zum Gottesdienst riefen, läuteten bereits seit geraumer Zeit.
„Mir gefällt das nicht“, murmelte Zedna zum widerholten Male. „Was mag der Junge bloß vorhaben?“
Aneschka drückte ihrer Freundin begütigend den Arm.
„Lukas weiß, was er tut“, versuchte sie Zedna zu beschwichtigen.
„Dein Wort in Gottes Ohr. Ich wünschte, ich wäre mir da genauso sicher wie Du. Seit diese Ablässe die ganze Stadt auf den Kopf stellen, ist er wie ausgewechselt. Du weißt, dass er kaum noch in seiner Kammer schläft?“ Zedna schüttelte den Kopf. „Sein Meister hat es mir erzählt. Er ist sehr unzufrieden mit Lukas. Mein Sohn ist unaufmerksam bei der Arbeit und stets unterwegs. Er zieht mit gleichgesinnten Freunden umher, stellt sich auf Plätzen auf und deklamiert Sätze, die er offenbar bei Jans letzter Predigt aufgeschnappt hat.“
„Ja, es ist, als ob irgendein Fieber ihn gepackt hätte“, sagte Aneschka kurzatmig. Die Steigung zum Hradschin war beachtlich, und ihr versehrtes Bein schmerzte von der Anstrengung. „Ich glaube, dass sein Geist in diesen Aufrufen endlich den Weg gefunden hat, den er so lange suchte. Lukas fühlt sich gebraucht und genießt die Aufmerksamkeit der Menge sowie das Gefühl, für eine gerechte Sache zu kämpfen.“
Sie lächelte Zedna begütigend an. „Du kannst wirklich stolz auf ihn sein, Zedna! Er ist mutig und selbstlos. Wir müssen nur aufpassen, dass er in seiner überschäumenden Kraft keinen unüberlegten Schritt unternimmt.“
Zedna seufzte.
„Ja, das ist meine größte Angst. Er ist so schrecklich ungestüm…“
„Ich verstehe Dich. Trotzdem müssen wir Lukas zugestehen, Fehler zu machen. Das gehört zum Erwachsenwerden dazu. Mit seinem hellen Kopf wird er in ein paar Jahren sicherlich ein anerkannter Handwerker sein und eine herausragende Stellung in seiner Gilde einnehmen. Und dann werden wir uns an den heutigen Tag erinnern und über unsere Sorgen lachen.“
Zedna seufzte.
„So sei es.“
Aneschka schwieg und hoffte, ihre Freundin etwas aufgemuntert zu haben. Im Grunde ihres Herzens war jedoch auch sie nicht ganz frei von Sorgen. Lukas hatte sie heute morgen in den Dom bestellt, war aber nicht zu bewegen gewesen, seine Gründe dafür zu erläutern.
Aneschka erinnerte sich noch gut an ihr letztes Treffen dort und Lukas‘ Streit mit Matej. Sie hatte Zedna nicht erzählt, dass Lukas Zeiselmeister gedroht hatte, um diese nicht zu beunruhigen. Aber jetzt hatte sie es eilig, möglichst bald anzukommen.
Viele Gläubige waren bereits im Dom versammelt. Aneschka und Zedna besuchten schon wegen der großen Entfernung zu der Schule normalerweise nie diesen Gottesdienst. Auch sahen sie in lauter unbekannte Gesichter, als sie sich nun zusammen mit den anderen versammelten.
Als hätte sie ihre Gedanken erraten, murmelte Zedna, den Blick zur Decke gerichtet, während sie in Richtung Altar weiterrückten: „Ich wünschte, wir wären in der Bethlehemkapelle. Dieses Gewölbe ist gar zu prächtig und herrschaftlich für jemanden wie mich. Unter ein paar einfachen Holzbalken fühle ich mich besser.“
„Kannst Du Lukas irgendwo entdecken?“, fragte Aneschka, die den Kopf in alle Richtungen reckte.
„Nein“, seufzte Zedna. „Aber es sind auch so viele Menschen hier, dass es kaum möglich scheint.“
„Aber Lukas ist groß gewachsen! Wir müssten doch in der Lage sein, ihn auszumachen!“, murmelte Aneschka, der es viel lieber gewesen wäre, den Jungen im Blick zu haben. In diesem Augenblick fing der Gottesdienst an, und sie verstummten.
Auf einmal bohrten sich Zednas Nägel in Aneschkas Arm.
„Schau mal wer heute die Predigt hält!“, zischte sie, und deutete nach vorne.
Plötzlich fehlte Aneschka die Luft zum Atmen.
„Nikolaus!“, sagte Aneschka tonlos. Sie starrte Zeiselmeister an, und in einem Augenblick der plötzlichen, glasklaren Einsicht wusste sie, dass gleich eine Katastrophe geschehen würde.
„Zedna, wir müssen Lukas finden!“, sagte sie dringlich. „Er wird etwas sehr Dummes unternehmen, das spüre ich!“
Zedna starrte sie eine Sekunde lang mit einem weit aufgerissenen Auge an.
„Gut“, sagte sie mit zittriger Stimme, aber gefasst. „Dann trennen wir uns. Du suchst die eine Hälfte der Menge ab, ich die andere.“
Aneschka nickte. Sie setzten sich sofort in Bewegung.
Vom Gottesdienst bekam Aneschka nicht viel mit. Sie war zu sehr beschäftigt, sich durch die Versammelten hindurch zu schlängeln und jedem, der eine etwas größere Statur aufwies, ins Gesicht zu schauen. Es war ein schwieriges Unterfangen angesichts der Größe des Schiffes. Der Dom konnte weitaus mehr Menschen fassen als die Bethlehemkapelle, und er war gut besucht.
Ihr Tun erweckte nur wenig Aufmerksamkeit, denn in der Kirche herrschte das übliche Treiben, das außer in Jans Kapelle die Regel während der Gottesdienste war: Viele Menschen schienen hauptsächlich in den Gottesdienst zu gehen, um Neuigkeiten zu tauschen, miteinander zu tändeln oder sogar Geschäften nachzugehen. Besonders in den hinteren Reihen war Nikolaus‘ Predigt kaum noch zu hören, sie wurde von den ungehemmt sich austauschenden Gläubigen übertönt.
Wie stets waren ebenfalls viele alte Leute versammelt. Sie hockten im Dom nieder oder lehnten an den Wänden, erschöpft vom anstrengenden Anstieg auf den Hradschin, und starrten stumm auf den Altar. Greise waren stets gute Kirchenbesucher, war es doch eine weit verbreitete Meinung, dass Menschen innerhalb eines Gotteshauses nicht altern würden.
Doch all diese Menschen interessierten Aneschka nicht, und sie arbeitete sich stumm zwischen ihnen hindurch, getrieben von einer Angst, die sie sich selber kaum erklären konnte und die mit Vernunft nichts mehr zu tun hatte. Von Lukas war keine Spur zu sehen, doch diese Feststellung beruhigte sie keineswegs, sondern spornte nur ihre Einbildungskraft an, sich immer neue Katastrophen auszumalen.
Als der Gottesdienst allmählich seinem Ende zuging, begann die Hoffnung in Aneschka zu keimen, sie hätte sich geirrt. Vielleicht hatte Lukas ja seine Pläne verschieben müssen… oder Zedna hatte mehr Erfolg gehabt.
Sie beschloss, wieder zu der Stelle zurückzukehren, an der sie sich getrennt hatten. Sie befand sich gerade nahe genug am Altar, um Zeiselmeisters Worte wieder verstehen zu können, als dieser Luft holte.
„Und nun will ich Euch erneut von einer Sache berichten, die beweist, wie gut der Heilige Vater es mit uns allen meint und wie sehr Er um unser aller Seelenheil besorgt ist.“ Nikolaus machte eine Pause und fuhr dann fort: „In den letzten Tagen wurde Euch schon mehrfach über die Möglichkeit berichtet, Vergebung für Eure auf Erden begangenen Sünden zu erlangen.“
Nikolaus sah streng in die Menge.
„Ich weiß“, sagte er hart, „dass es böse Zungen gibt, die den Papst auf übelste Weise beschimpfen, weil Er eine Bulle erlassen hat, mit der Erlaubnis, Ablässe zu verkaufen. Doch mit welchem Recht und aus welchem Grund erlauben sich diese Menschen, die Handlungsweise des Heiligen Vaters in Frage zu stellen?“
Aneschka hielt inne und erstarrte.
Die Ablassverkäufe! Natürlich!
Schon als Aneschka Lukas und Matej letztes Mal hier angetroffen hatte, hatte Lukas sich über die Ablässe empört. Sicherlich hatte er vor, ihren Verkauf irgendwie zu unterlaufen…
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte nach vorne, auf die rechte Hinterseite des Altars, dort, wo sie wusste, dass eine der eisenbeschlagenen Truhen deponiert worden war. Die Ecke stand im Halbdunkel und war zu weit entfernt, um Genaueres erkennen zu können. Und dennoch…
Huschte dort nicht ein langer menschlicher Schatten vorbei?
„…Ich sehe unter euch Männer und Frauen, die siech und alt sind“, predigte indes Nikolaus weiter. „Ist es diesen Menschen zuzumuten, in den Krieg gegen die Ungläubigen zu ziehen? Sollen sie etwa ein Schwert in die Hand nehmen und sich auf nach Jerusalem machen? Kein vernünftiger und mitfühlender Mensch würde das von ihnen verlangen. Doch ist es nicht andererseits höchlich ungerecht, diese armen, vom Schicksal sowieso bereits gebeutelten Kreaturen davon auszuschließen, sich von ihren Sünden reinzuwaschen? Und ist es ihnen nicht zu gönnen, nach ihrem Tod bald in den Genuss der ewigen Glückseligkeit zu gelangen?“
Aneschkas Atem ging schnell. Sie arbeitete mit den Ellenbogen, schob Menschen auseinander, drückte Schultern zur Seite. Ihre Hände flogen vor Aufregung, während sie sich rücksichtslos und so schnell sie konnte nach vorne drängte. Die Menschen schimpften, knufften sie, doch sie hörte und spürte es nicht. Inzwischen war sie sich fast sicher, dass es Lukas‘ Schatten war, den sich dort in der Nähe der Truhe erspäht hatte…
Entgegen der Art, wie Jan seine Predigten führte, erwartete Nikolaus keine Antworten auf seine Fragen, sondern fuhr fort.
„Der Heilige Vater erhält die Tradition der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe unserer Kirche am Leben, indem er auch an die Ärmsten der Armen denkt…“
In dem Augenblick rief Aneschka unwillkürlich erstickt auf, denn der Schatten, den sie schon die ganze Zeit beobachtet hatte, machte einen Satz nach vorne. Es war Lukas!
In zwei weiteren Sprüngen war Lukas am Altar und baute sich vor der Gemeinde auf.
„Den Ärmsten der Armen will der Papst mit den Ablässen helfen?“, höhnte er. „Was für ein Humbug! Wie denn sollen sie sich die leisten können?“
„Der Papst braucht sich von niemandem zur Rechenschaft ziehen zu lassen!“, brauste Nikolaus auf. „Aber wenn Du Dir schon das Recht herausnimmst, den Gottesdienst zu unterbrechen, so solltest Du auch wissen, dass der Preis für die Ablässe nicht fest ist, sondern dem Vermögen des Sünders angepasst wird!“
Lukas brach in lautes Gelächter aus.
„Wie großzügig vom Papst! Er nimmt den Hungernden nur die Hälfte ihres Brotes weg, statt das ganze!“, schrie er, dem Publikum zugewendet. „Das wird ihn trösten, wenn seine Kinder krepieren, weil sie nichts mehr zu beißen haben!“
„Wenn es um die Verteidigung Roms geht, sind alle Christen aufgerufen, zu helfen! Niemand darf glauben, sich dieser Pflicht entziehen zu dürfen!“, ereiferte sich Nikolaus. Er wandte sich nun ebenfalls seiner Gemeinde zu. „Was ist mit euch? Wie lange noch darf dieser Mann hier diesen geweihten Ort verhöhnen, bevor ihr dagegen einschreitet?“
Nikolaus brauchte nicht lange zu warten. Eine Handvoll Männer trat aus den Reihen der Gläubigen.
Lukas erfasste sie mit einem Blick. Mit einem Satz sprang er auf die steinerne Brüstung, die den Altar weitläufig einfasste. Nun von allen gut sichtbar, streckte er gegen den zu ihm hinauf starrenden Nikolaus einen Zeigefinger aus und brüllte aus Leibeskräften:
„Lasst Euch von seinen süßlichen Worten nicht verführen! Kauft seine Ablässe nicht! Jan Hus hat es gesagt: Es ist alles bloß Betrug! Keiner von Euch wird schneller die ewige Seligkeit erlangen, wenn er dieses Stück Haut kauft!“
Nikolaus war weiß vor Wut.
„Los!“, herrschte er die Männer an, die ratlos herumstanden. „Ergreift diesen Mann! Bringt ihn zum Schweigen!“
Offenbar hatte Lukas mit einer solchen Wendung gerechnet und sich bereits einen Fluchtweg überlegt. Er sprang von seiner erhöhten Position geschickt auf eines der Gerüste, das die Steinmetze aufgebaut hatten. Eine feine Wolke aus Steinmehl stieg auf. Wahrscheinlich hatte er vor, den hinteren Teil des Altars zu erreichen – wie er von dort aus entkommen wollte, war Aneschka allerdings rätselhaft. Doch gerade in dem Augenblick, als Lukas sich von seinem schwankenden Gerüst auf ein weiteres, noch höheres schwingen wollte, materialisierte sich eine Gestalt wie aus dem Nichts und sperrte ihm den Weg ab.
Aneschka stieß einen Schrei aus, der im Lärm der aufgebrachten Menge unterging.
„Matej!“
Lukas schreckte verblüfft zurück.
Matej breitete die Arme aus, das Gesicht in einer Art Ekstase verklärt.
„Nein, Du darfst jetzt nicht fliehen!“, hörte Aneschka ihn deutlich sagen.
Bis Lukas sich wieder gefasst hatte, war es zu spät. Männer aus der Gemeinde stürzten sich auf ihn, schnappten nach seinen Waden und zerrten ihn gewaltsam vom Gerüst herunter.
„Nicht der Papst ist das Haupt der Kirche, sondern Christus!“, schrie Lukas mit der ganzen Kraft seiner Lungen.
Zwei kräftige Ohrfeigen warfen seinen Kopf herum.
„Nein, lasst ihn los!“, schrie Aneschka. „Er ist noch zu jung, er weiß nicht, was er sagt!“
Doch keiner achtete auf sie. Alle starrten auf Lukas und die Männer. Der Junge wehrte sich nach Kräften und konnte offenbar nur mit Mühe gebändigt werden.
„Der Papst kann nicht Sünden vergeben! Nur Gott kann das!“, brüllte er.
„Bringt ihn endlich zum Schweigen!“ widerholte Nikolaus. „Raus! Sperrt ihn in das Haus der Chorsänger! Und dann ruft die Stadtwache!“
„Ihr könnt uns nicht zum Schweigen bringen! Dafür sind wir zu viele, die wir die Wahrheit kennen!“, brüllte Lukas. Doch dann flog von irgendwoher eine Faust auf ihn zu, und er erschlaffte.
„Lukas! Nein!“
Es war Zednas schrille Stimme. Aneschka erspähte sie in einiger Entfernung, sie war genauso eingekeilt in der wogenden Menge wie sie selber und unfähig, ihrem Sohn zur Hilfe zu kommen.
Aneschka kämpfte mit ganzer Kraft, doch es war aussichtslos. Die Versammelten drängten inzwischen alle nach vorne um einen Blick auf den Jüngling werfen zu können, der so dreist war, es mit dem Papst aufnehmen zu wollen.
Aneschka konnte das Geschehen nur noch von Weitem verfolgen.
Die Männer, die Lukas überwältigt hatten, hielten seine Arme und Glieder fest umklammert.
Seine Augen waren geschlossen, sein Wangenknochen blutig.
Der ohnmächtige Junge wurde von ein paar kräftigen Männern nach draußen gezerrt, während andere die vordrängenden Menschen zurückzuhalten versuchten. Zedna streckte einen flehenden Arm in die Richtung der Vorbeiziehenden aus, ihren Mund verzerrt. Aneschka wandte das Gesicht ab – und fuhr zusammen, als sie Matej erblickte. Ihr Sohn war leichenblass, seine regelmäßigen Züge in Entsetzen erstarrt, während er verfolgte, wie Lukas fortgetragen wurde.
Und neben ihm…
Neben ihm stand Nikolaus, und klopfte ihm auf die Schulter.

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